Eine soziale Anlaufstelle

Die Pichelsdorfer Straße 120: ein rosa gestrichener Altbau. Unten im Haus befindet sich seit 30 Jahren die Pichelsdorf Apotheke. Vor 18 Jahren hat Iris Musiol sie übernommen: »Meiner Vorgängerin war es wichtig, dass jemand die Apotheke in ihrem Sinne weiterführt.« Das hieß: »Kundenorientiert, nicht verkaufsorientiert. « Das ist Iris Musiol – für Menschen, die es nicht selbst in ihre Apotheke schaffen, beschäftigt die Inhaberin sogar einen Boten.

Das Schaufenster der Pichelsdorf Apotheke ist österlich dekoriert: »Für die bevorstehende Aktion des Geschäftsstraßenmanagements: Da geben Kinder beim Stadtteilladen in der Adamstraße selbstgebastelte Nester ab und finden sie anschließend befüllt in den Schaufenstern teilnehmender Geschäfte wieder – unter anderem bei uns«, erklärt Iris Musiol und fügt hinzu: »Aber wir machen generell keine Produktwerbung. Davor hatten wir im Fenster das Thema Hatschi: Da haben wir Ursachen von Niesreiz erklärt.«
Es ist ein Samstagnachmittag. Gerade hat die Inhaberin der Apotheke ihre Kollegen und die letzten Kunden verabschiedet. Nun führt sie durch die leeren Apothekenräume. Hinter einem kurzen Gang mit alphabetisch sortierten Medikamentenschubladen liegt das Labor. Auf einer langen Arbeitsplatte befindet sich eine Kapselfüllmaschine: »Mit der stellen wir Medikamente her, die wegen geringer Nachfrage nicht fertig im Handel erhältlich sind – zum Beispiel Herzmittel für Säuglinge.« Weiter hinten steht ein bedecktes Gefäß: »Da ist Cannabisöl drin. Das hat mein Kollege vorhin verdünnt.«
Zurück im kleinen Verkaufsraum mit Blick auf den Metzer Platz deutet Iris Musiol auf einen Kasten mit Kräutern vor der Kasse und meint: »Selbst Kräuter Kühne schickt Kunden zu uns.« Die studierte Pharmazeutin ist pflanzlichen Heilmitteln gegenüber aufgeschlossen: »Zu Beginn meiner Laufbahn habe ich einer Frau einmal eine Bachblütenmischung zusammengestellt. Eine Pflanze auf ihrer Liste aber war aus. ›Na ja, dachte ich damals noch, ob da sieben oder acht drin sind, ist ja egal.‹ Am nächsten Tag aber kam die Frau wieder und meinte, die Mischung stimme nicht. Das hat mich stark beeindruckt.«
Jahre später machte Iris Musiol noch eine Ausbildung zur Heilpraktikerin: »Man darf von pflanzlichen Mitteln keine Wunder erwarten, aber was immer dem Patienten hilft, ist gut. Wenn die Homöopathie es schafft, dass Menschen keine Psychopharmaka mehr benötigen, freue ich mich.« In ihrem Verkaufsraum stehen nur zehn Regale: »Wir haben quasi das Gegenteil des Discounter-Prinzips. Wir führen nur fair Produziertes und beraten bei jedem Kauf.« Eine gute Verkäuferin, meint Iris Musiol lachend, sei sie jedoch nicht: »Ich bin die Anwältin der Patienten. Dazu gehört auch mal abzuraten.«
Geboren wurde die Mutter eines bereits erwachsenen Sohnes in Leipzig. Schon als Kind träumte sie davon, einmal Pharmazeutin zu werden: »Meine Eltern waren Chemiker. Ich wollte in die Forschung gehen und das ultimative Mittel gegen Krebs entwickeln.« Ihr Vater aber floh in den Westen, ihre Mutter stellte einen Ausreiseantrag. Als sie vor die Wahl gestellt wurde, sich offiziell von ihren Eltern zu distanzieren oder ihr Studium aufzugeben, flüchtete sie nach Nordrhein-Westfalen.
In Münster beendete sie ihr Studium. Nach dem Mauerfall verschlug es sie nach Berlin: »Ich habe in Kreuzberg in einem Apothekerkollektiv eng mit Ärztekollektiven zusammengearbeitet und war davon überzeugt, dass wir in einer tollen Gesellschaft leben.« Mittlerweile sieht sie vieles kritisch. Besonders die Gesundheits- und Bildungspolitik: »Das zunehmende Effizienz- und Leistungsdenken macht mir Angst. Ich sehe mit Entsetzen, wie sehr die Einnahme von Antidepressiva zunimmt und wie viele Schulkinder bereits Psychopharmaka verschrieben bekommen, um besser zu funktionieren.«
In ihrer Apotheke bekommt sie auch sonst viel von den Menschen mit: Wir sind eine soziale Anlaufstelle für besorgte ältere und jüngere Menschen wie Mütter. Weil wir immer erreichbar sind und uns Zeit nehmen.« In letzter Zeit hat sie durch ihr Klientel eine Veränderung in der Wilhelmstadt beobachtet: »Es kommen wieder mehr junge Familien.« Lächelnd erzählt sie: »Neulich meinten Freunde aus dem Prenzlauer Berg bei einem Besuch, die Gegend erinnere sie mittlerweile an den früheren Osten: Weil es hier noch Eckkneipen und originelle Läden gibt. Die vermissen sie dort.«
Obwohl sie selbst nicht in der Wilhelmstadt lebt, sondern täglich mit dem Fahrrad aus Charlottenburg kommt, hängt sie an dem Kiez. Im vergangenen Dezember hat sie auf Initiative des Geschäftsstraßenmanagements zusammen mit anderen Gewerbetreibenden einen kleinen Weihnachtsmarkt veranstaltet: »Da habe ich auf dem Metzer Platz Tee ausgeschenkt. Natürlich umsonst. Es ging ja um den Zusammenhalt und darum zu zeigen: Ihr müsst nicht bis in die Altstadt.« Als Engagement würde sie die Aktion nicht bezeichnen: »Das habe ich einfach gemacht, weil ich den Metzer Platz liebe und möchte, dass auch andere erkennen, wie schön er ist.«

Eva-Lena Lörzer, Wilhelmstädter Magazin Nr. 2, April/Mai 2018

Pichelsdorf Apotheke, Pichelsdorfer Str. 120, Tel. 3322007, www.pichelsdorfapotheke.de
Mo–Fr 8.30–18.30 Uhr, Sa 8.30–13.30 Uhr

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