Ein Gewinn für die Wilhelmstadt

Eine syrische Flüchtlingsfamilie führt das neue Obst-, Gemüse- und Lebensmittelgeschäft in der Pichelsdorfer Straße 87

An der Ecke Weißenburger / Pichelsdorfer hat sich das Straßenbild angenehm verändert. Gegenüber dem Fachwerkhaus mit der »Traube« sieht man nicht mehr den traurigen Ramsch des Billigladens, der früher hier Ein-Euro-Waren verkaufte. Seit kurzem locken vielmehr die farbenprächtigen Auslagen eines neuen Lebensmittelmarktes: Melonen, Pfirsiche, Aprikosen, Pflaumen, Feigen, Tomaten, Auberginen, Zucchini, Salat, Beeren, Äpfel, bunte Paprika, Lauch leuchten um die Wette. Und viele Wilhelmstädter wissen das neue Angebot offenbar zu schätzen: Gerade lässt sich eine muntere 90-jährige Spandauerin, die mit ihrem Elektromobil vorgefahren ist, ein paar Tomaten vom Verkäufer eintüten und abwiegen. Im Laden selbst gibt es fast alles für den täglichen Bedarf: von Brot über Milchprodukte und Frischfleisch bis hin zu Drogerieartikeln oder Babywindeln.

Im Juni eröffnete der Supermarkt »Zaman Alkhair«. Inhaber ist Fadi Kasem, 42 Jahre alt. Zusammen mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Amin betreibt er das Geschäft. Fadi und Amin Kasem sind auf unseren Besuch nicht vorbereitet, wir kommen unangemeldet. Dennoch nehmen sich beide Zeit für uns. Sie bitten in das Büro über dem Laden, entschuldigen sich dafür, dass es noch nicht wirklich eingerichtet ist, bieten arabischen Kaffee an, der stark und gut ist und nach Kardamom
duftet. Dann erzählen sie ein bisschen. Fadi Kasem, Vater von fünf Söhnen und palästinensischer Syrer, war früher Immobilienhändler in Damaskus und führte dort zwei Geschäfte. In dem vom Krieg geschüttelten, zerbombten Land sah er jedoch keine Zukunft mehr für seine Familie – es ging nur noch ums Überleben. Mit seinem ältesten Sohn Yazan, der damals 11 Jahre alt war, begab er sich vor vier Jahren auf die Flucht. Yazan, inzwischen 15, zählt die Stationen der sechswöchigen Odyssee auf: Türkei, Griechenland, Italien, Deutschland. 2013 kamen beide in Berlin an, zunächst im Wedding. Danach wohnten sie in einer Flüchtlingsunterkunft
in Lichtenberg. Fadi Kasem konnte schließlich auch seine Ehefrau mit den vier jüngeren Söhnen nach Berlin holen, sie fanden eine Wohnung am Brunsbütteler Damm. In der Zwischenzeit war Fadi Kasem, an Selbstständigkeit gewohnt, nicht untätig geblieben. Er hatte es geschafft, in der Moabiter Turmstraße einen kleinen Lebensmittelladen zu gründen, eine Existenzgrundlage für seine Familie.

2015 flüchtete auch Fadis Bruder Amin aus Damaskus, wo er eine Schneiderei betrieben hatte. Inzwischen lag Damaskus zerbombt in Trümmern, ein Ende des Krieges war nicht abzusehen. Jetzt lebt Amin in Wittenau und fährt jeden Tag nach Spandau, um im Familienbetrieb zu arbeiten. Den kleinen Laden in der Turmstraße hat Fadi Kasem aufgegeben, für dieses größere Lebensmittelgeschäft in Spandau. Nun steht er jeden Morgen um 4.30 Uhr auf, um zum Großmarkt in der Beusselstraße zu fahren, wo sie täglich frisches Obst und Gemüse einkaufen. Yazan, der 15-jährige Sohn, ist immer dabei. »Mein Sohn ist immer mit mir«, sagt
der Vater. In diesem Satz schwingt vieles mit: Liebe und Stolz, Sorge und Fürsorge. Und der mächtige Instinkt vieler Geflüchteten, ihre Familien, insbesondere die Kinder unbedingt zu beschützen. Yazan, der jetzt in die zehnte Klasse in einer Schule in Havelhöhe kommt, könnte sich in den Schulferien natürlich Besseres vorstellen, als jeden Morgen um halb fünf aufzustehen. Aber er murrt nicht. Und wo seinem Vater noch die deutschen Wörter fehlen, übersetzt er in perfektem Deutsch. Dabei hat auch der Vater in seinen vier Jahren im neuen Land viel Neues gelernt – mehr als nur die Sprache. Er kennt inzwischen Wörter wie Denkmalschutz, denn das Haus mit dem Geschäft und dem Büro in der Etage darüber ist ein Baudenkmal. Er hat Aktenordner voller Unterlagen und Genehmigungen: Gewerbeamt, Gesundheitsamt, Ordnungsamt, Denkmalpflege, Mietverträge, Steuer, Finanzamt. Er weiß, wie viel Straßenfläche er
mit seinen Obst- und Gemüseauslagen in Anspruch nehmen darf, und hält sich genau daran, er zahlt regelmäßig seine Steuern. Kein Wort der Klage über deutsche Vorschriften oder Bürokratie. Fadi und Amin möchten einfach nur hier ein neues Zuhause haben. Fadi schätzt Spandau sehr und lebt gern hier.
»Das ist der schönste Bezirk Berlins«, sagt er. Warum? »Es ist anders als Kreuzberg oder Neukölln. Es gibt hier keine Drogenszene wie dort, keine Randale und Vandalismus. Das ist wichtig für die Kinder.« Die Söhne des Ehepaars Kasem sind 15, 13, 11, 8 und 5 Jahre alt, sie gehen in Spandau in die Schule und der Jüngste in die Kita. Fragt man die jüngeren Söhne, die jetzt in die dritte und vierte Klasse kommen, was sie so in den Ferien machen, sagen sie: Fahrrad fahren.
Zwei Brüder von Fadi und Amin Kasem leben noch in Damaskus. Sie telefonieren täglich. Auch sie würden gern ihrer Familie nach Deutschland folgen, aber wenn es geht, nicht auf einer gefährlichen Fluchtroute, sondern mit legaler Einreise. Für die Wilhelmstadt ist das neue Geschäft nicht nur eine Augenweide, sondern ein echter Gewinn. Über Mangel an Kundschaft können die Kasems jedenfalls nicht klagen – viele Wilhelmstädter freuen sich nicht nur über die große Auswahl an frischem Obst und Gemüse auf der Pichelsdorfer, sondern auch über die überaus freundliche Bedienung.

Ulrike Steglich, Wilhelmstäder Magazin Nr. 5, Oktober/November 2017

Zaman Al Khair, Pichelsdorfer Straße 87, 030 39870777

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